… dass es endlich weiter geht. Heute um 8.30 Uhr war der lang ersehnte Termin zum Erstgespräch im Henriettenstift Kirchrode. Die auszufüllenden Fragebögen kamen mir alle ziemlich bekannt vor. Nur von der provisorischen Umgebung im etwas abgenutzten noch nicht renovierten Altbau war ich etwas verunsichert. Schließlich kam eine Oberärztin und nahm mich mit zum persönlichen Gespräch. „Sie haben jetzt zwanzig Minuten.“
Ich solle mich nicht immer gleich angegriffen fühlen, so habe ich es des öfteren in letzter Zeit in meinem Horoskop gelesen. Seitdem beobachte ich das mal ganz gezielt, in welchen Situationen ich das Gefühl bekomme, man latsche bequem auf meinem Schlips herum. Dabei konnte ich zwei Dinge beobachten: zum Einen, dass es vielleicht gar nicht soweit hergeholt ist. Tatsächlich bemerke ich relativ schnell einen Blutdruckanstieg, wenn es mal nicht nach meiner Nase geht. Das Zweite, was mir in solchen Momenten auffiel, ist die Tatsache, dass ich meine längst verloren geglaubte stoische Ruhe, gerade in stressigen Situationen, größtenteils zurückgewinnen konnte. Es geht nicht gleich wegen jeder Kleinigkeit die Welt unter – auch wenn´s im ersten Moment so aussieht. Oder um es auf neudeutsch auszudrücken: ich merkel das aus.
Vier Stunden geschlafen und tatsächlich pünktlich in Kirchrode gewesen, war schon die Hinfahrt wenig erquickend. Obwohl die zwanzig Grad noch nicht erreicht, schien es bei einigen Autofahrern schon über vierzig gewesen zu sein. Aber alles auf Anhieb gefunden, saß ich nun zum Erstgespräch im Büro der Oberärztin. Mein erster Eindruck, mit der könne ich problemlos erstmal Kaffeetrinken und Kuchenessen gehen, hielt auf der persönlichen Ebene bis sie mich am Ende zum Ausgang begleitete an. Die berufliche Professionalität war wie erwartet Oberärztinnen-mäßig normal ausgeprägt. Trotzdem hatte ich bei den meisten Nachfragen ihrerseits das Gefühl, angegriffen zu werden. Sätze, die mit „Was glauben sie denn, dass…“ oder „Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass… “ anfangen erwecken bei mir nur wenig vertrauensvolle Stimmung. Irgendwie musste ich an die Salesch denken, in solchen Verhandlungen, wo sie mal so einen echte Macho auf der Bank hatte.
Das mein Geist schon im Verteidigungsmodus ist, nahm ich relativ schnell war, siehe oben. Irgendwann hatte ich allerdings das Gefühl, gleich würde mir erklärt werden, ich sei Schuld an der Trennung meiner letzten langjährigen Beziehung. So versuchte ich Gefühle und Gedanken beiseite zu schieben und mich auf das Wesentliche zu beschränken. Wertfrei und sachlich bleiben. Trotzdem lockte die gute Dame mich damit aus der Reserve und ich erwartete schon den bereits bekannten Kommentar: „Sie machen eher einen aggressiven als einen depressiven Eindruck auf mich.“ (MDK, 2. Gutachten) Und selbst wenn, wäre es mir in dem Moment egal gewesen. Ich habe seit Januar mein bestes gegeben. Das weiß ich. Und das Gefühl, irgendwie vom System verarscht zu werden, will nicht kleiner werden.
In Lipperland schickt man mich nach Hause mit den Worten „sie wissen jetzt, wie´s geht, umsetzen können sie dies nur zu Hause“. Während der Suche nach einem Platz für eine ambulante Psychotherapie, stellt die Krankenkasse von heute auf morgen die Krankengeldzahlungen ein. Begründung: ich sei ab 1. April wieder arbeitsfähig. Widerspruch, 2. Gutachten beim MDK. Die Gutachterin dort schaut mich an und fragt mich, warum ich nicht schon längst wieder in stationärer Therapie sei. Einen Tag zuvor erklärt mir meine Psychotherapeutin, dass die die Therapie zwar beantrage, aber grundsätzlich auf Grund des Umfangs ablehnen würde, wenn ich nicht zuvor nochmals stationär ginge.
Und während des ganzen Gespräches heute schwebte nur eine Frage im Raum: was wollen sie eigentlich hier? Die Frage wurde sogar gestellt – ganz am Anfang zur Einleitung. Trotzdem hatte ich das Gefühl, sie sei nie beantwortet worden.
Mein Fall wird in der Runde vorgetragen, ich bekomme dann Antwort.
Positiv fiel mir auf, dass sie – als allererste überhaupt – auf das diagnostizierte Schreibkrampfsyndrom wiederholt zu sprechen kam und überhaupt nicht verstehen konnte, wie ich damals bei meinem Psychologen/Neurologen behandelt worden sei. Schließlich sei dies eine ganz klare dissoziative Erkrankung. Die Aussage „Wenn sie damit Leben können, Herr Thilo, dann leben sie am besten damit.“ erschien selbst ihr ungenügend – aber für den behandeln Arzt die einfachste Lösung. Zumindest hatte ich in dieser Hinsicht, ehrliches Interesse bei ihr geweckt zu haben. Der Pianistenkrampf ist allgemein bekannt. Das Schreibkrampfsyndrom gehört schon zu den sehr seltenen Erkrankungen.
Na ja… Mit langweiligen Geschichten gebe ich mich eben nicht zufrieden. Ich habe ja auch meine Ansprüche.
Meinen geliebten Abstinenzvertrag habe ich übrigens heute schon unterschrieben…
Nun sitze ich hier relativ verwirrt. Es gibt so viele Richtlinien und Standards auch für psychosomatische Verfahren, bin ich wirklich so außergewöhnlich, dass offensichtlich jede Fachkraft hier zu einem ganz anderen Ergebnis kommen kann bezüglich meiner gesundheitlichen Situation? Ich finde das alles ziemlich fragwürdig. Und es hilft mir nicht, es verunsichert mich. Und langsam aber sicher nähert sich auch das Ende des Krankengeldes: die Aussteuerung. Ich solle mal über eine Berentung nachdenken, wurde mir noch nahegelegt…
Auf der Rückfahrt war ich dann so frustriert, dass ich zwanzig Minuten später vom anderen Ende wieder nach Kirchrode rein fuhr. Und dann schließlich doch noch die richtige Strecke nach Hause gefunden habe.
Allerdings mit dem Gedankengang im Kopf, schon auf dem Heimweg das nächstmögliche Stellenangebot anzunehmen um mich dieser ganzen Situation und der Unfähigkeit unseres Systems zu entziehen.
Und so bleibt am Ende wieder einmal nur das eine: warten…